
Wirtschaftsausblick Die Goldenen 2020er


Florian Gaertner / photothek / imago images
Als die letzte große Pandemie über die Welt hereingebrochen war, folgten Jahre der Euphorie. Nach der Spanischen Grippe kamen die Roaring Twenties. Die 1920er-Jahre waren ein Jahrzehnt des Aufbruchs, gesellschaftlich, kulturell, wirtschaftlich.
Nach den Verheerungen des Ersten Weltkriegs und der sich anschließenden tödlichen Seuche stand der Zeitgeist in vielen Ländern auf Aufbruch. Es war ein langer Aufschwung, der nach und nach viele Volkswirtschaften erfasste. In Deutschland ist die Erinnerung an diese Phase überschattet von der blutigen Anfangsphase der Weimarer Republik und der Hyperinflation von 1923. Aber auch hierzulande setzten irgendwann die Goldenen Zwanziger ein.
Am Ende eines desaströsen Corona-Jahres stellt sich die Frage: Können wir jetzt mit Goldenen 2020ern rechnen? Steht eine überraschend schnelle Erholung der Wirtschaft bevor? Und wie nachhaltig könnte sie sein?
Die Post-Corona-Perspektive
Praktisch alle Prognosen sagen derzeit vorher, dass sich die Konjunktur 2021 deutlich erholen wird. Schon im dritten Quartal des abgelaufenen Jahres schnellten die Wachstumsraten sprunghaft in die Höhe, um dann von erneuten Shutdowns ausgebremst zu werden.
Der Beginn der Impfungen lässt nun allmählich die Perspektive der Nach-Corona-Zeit aufscheinen. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) beispielsweise sagt für Deutschland ein Wirtschaftswachstum von 3,1 Prozent im Jahr 2021 und von 4,5 Prozent 2022 voraus . Gegen Ende kommenden Jahres wird den Berechnungen zufolge wieder das Vorkrisenniveau erreicht. Danach geht es flott weiter aufwärts – bei sinkender Arbeitslosigkeit, niedriger Inflation und allmählich gesundenden Staatsfinanzen.
Anderen Ländern steht eine längere Durststrecke bevor. Insbesondere in stark Corona-geschädigten Euro-Südstaaten wie Italien und Spanien wird es noch einige Zeit dauern, bis sie die Wirtschaftsleistung des Jahres 2019 erneut erreichen. Aber auch sie sollten erfasst werden von einer kräftigen Dynamik nach der schwersten Wirtschaftskrise seit Generationen. Die Börsen jedenfalls haben dieses Szenario fest im Blick, wie die hohen Bewertungen an den Aktienmärkten zeigen.
Unsicherheit und Gelegenheit
Es sind vor allem drei Faktoren, die für einen raschen Nach-Corona-Aufschwung sprechen:
Weniger Unsicherheit: Die Pandemie und die einschneidenden Beschränkungen, die damit einhergingen, haben Bürger und Unternehmen massiv verunsichert. Wenn der Blick in die Zukunft sich verdunkelt, reagieren Menschen, indem sie sich einigeln: Sie geben weniger Geld aus. Verbraucher sparen, statt zu konsumieren; Unternehmen streichen Investitionspläne zusammen. Sie bilden aus Vorsicht Cash-Reserven. Wer weiß, was kommt.
Der allmähliche Rückgang der Unsicherheit dürfte nun den gegenteiligen Effekt auslösen: Die Verbraucher werden wieder deutlich mehr konsumieren. Die Unternehmensinvestitionen waren schon in der zweiten Jahreshälfte 2020 dabei, sich zu erholen. Es hilft, dass auch politische Unsicherheitsfaktoren abgeräumt sind: Der Handelskrieger Donald Trump verlässt das Weiße Haus; sein Nachfolger Joe Biden lässt immerhin auf eine handelspolitische Entspannung hoffen, zumal gegenüber Europa. Der Brexit kommt nun doch nicht in der harten Variante; nach dem weihnachtlichen Last-Minute-Deal über ein Abkommen zwischen Großbritannien und der EU bleiben die Schlagbäume zumindest ein Stück weit oben.
Mehr Freiraum: Die Rezession des Jahres 2020 war auch deshalb so harsch, weil ein großer Teil der Konsumausgaben schlicht untersagt war. Nicht nur Gastronomie, Unterhaltung, Kultur und Sport waren davon betroffen, sondern auch der Tourismus, was insbesondere in den südeuropäischen Urlaubsländern negativ zu Buche schlug. Wenn 2021 im Jahresverlauf die Einschränkungen allmählich aufgehoben werden, wird das unmittelbar die Konsumnachfrage beleben. Denkbar, dass viele Bürger das Ende der Pandemie regelrecht feiern werden – und mehr ausgeben als sonst.
Mehr staatliche Stützung: Die westlichen Staaten haben versucht, ihre Volkswirtschaften mit Programmen in beispiellosen Größenordnungen vor dem Kollaps zu retten. Und sie werden diese Hilfen nur ganz allmählich zurückfahren. Auch 2021 werden die kreditfinanzierten Budgets nur langsam zurückgeführt. In den USA macht sich der künftige Präsident Biden sogar daran, mit massiven zusätzlichen Ausgaben sozial- und umweltpolitische Ziele zu erreichen, sofern der Kongress mitspielt. Auch in der EU greifen die zusätzlichen Haushaltsspielräume, die der Corona-Wiederaufbaufonds eröffnet hat, erst mit Zeitverzögerung in den kommenden Jahren. Auf Sicht wird daher auch die Finanzpolitik stimulierend wirken.
Die konjunkturpolitisch wohl wichtigste Verhaltensänderung der Bürger war eine radikale Änderung des Sparverhaltens. Als Reaktion auf die Unwägbarkeiten der Coronakrise haben sich in der Eurozone und in den USA 2020 die Sparquoten mehr als verdoppelt, in Großbritannien, in Kanada gar verfünffacht, so die OECD: In Deutschland ist der Anstieg weniger stark, aber auch hier legen Privatleute nun im Schnitt 16,6 Prozent von ihren verfügbaren Einkommen zurück, fünf Prozentpunkte mehr als 2019.
Die große Frage lautet, wie nachhaltig diese Verhaltensänderungen sein werden. Davon hängt viel ab für die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Bleiben die Bürger vorsichtig, könnte das die ökonomische Schwächephase um Jahre verlängern – und umso freigiebigere staatliche Stützungsmaßnahmen provozieren. Geben sie nach dem Ende der Pandemie ihre Zurückhaltung auf und genehmigen sich womöglich zusätzlich aufgestaute Konsumwünsche, ist sogar eine wirtschaftliche Überhitzung möglich.
Entscheidend ist deshalb, was ab dem kommenden Sommer geschieht. Sollten Sonne und Impfstoffe für eine baldige Normalisierung sorgen, könnte der Corona-Schock relativ bald in Vergessenheit geraten – und die Kauflust zurückkehren. Die Konsumnachfrage der Bürger könnte dann zum wichtigen Verstärker der wirtschaftlichen Erholung werden.
Relevant könnte auch der Ausgang der deutschen Bundestagswahl im September werden: Sollten dabei unklare Mehrheiten und eine lange Hängepartie herauskommen, würde dies die Unsicherheit abermals steigen lassen – nicht nur in Deutschland, sondern womöglich in ganz Europa.
Die Basiserfahrung des Jahres 2020
Für die mittel- bis langfristige Entwicklung wird die Produktivitätsentwicklung von entscheidender Bedeutung sein. In den 2010er-Jahren gab es einen einzigen wichtigen Wachstumstreiber: Arbeit. Die Erwerbsbeteiligung der Einheimischen stieg, während mehr und mehr Arbeitskräfte aus dem übrigen Europa zuwanderten. Die Wirtschaft produzierte mehr, weil mehr Arbeit eingesetzt wurde.
Dieses Modell stößt nun an seine Grenzen. Die Alterung der Gesellschaft lässt die Erwerbsbevölkerung schrumpfen; parallel dazu geht die Zuwanderung zurück. Ob die 2020er ein goldenes oder ein trübes Jahrzehnt werden, hängt deshalb vor allem davon ab, ob es gelingt, die Produktivität zu steigern. Das heißt: Wir müssen aus den vorhandenen Ressourcen mehr machen – ökonomisch, aber auch ökologisch.
Die Bedingungen dafür sind besser als befürchtet. Die hohe Ersparnisbildung der Privatbürger sorgt für ein überschwappendes Kapitalangebot – das nur auf attraktive Investitionsmöglichkeiten wartet. Bei der Finanzierung neuer Technologien sollte es keinen Engpass geben.
Dazu kommt die Erfahrung des Pandemiejahres. 2020 waren alle Augen auf die Wissenschaft gerichtet, die manchmal irrte – wie könnte es anders sein –, aber am Ende in Rekordzeit hochwirksame Impfstoffe und Medikamente entwickelte. Die Krise hat neuen Technologien zum Durchbruch verholfen – vom mRNA-Ansatz, auf dem die ersten Vakzine basieren, bis zu Videokonferenzen, die binnen weniger Monate zum kommunikativen Standardprogramm geworden sind.
2020 ist, so gesehen, ein eindrucksvoller Beleg für das Potenzial, das Wissenschaft und Technik bieten. Diese Erfahrungen könnten auf andere Problemfelder ausstrahlen – vom Klimawandel bis zur Alterung der Gesellschaften – und sowohl die Umweltbelastung sinken als auch die Arbeitsproduktivität steigen lassen.
Dies ist eine Basiserfahrung des Jahres 2020: Technologischer Fortschritt ist möglich und nützlich. Und er lässt sich durch privates Unternehmertum und Kapital enorm beschleunigen.
Der wissenschaftlich-wirtschaftliche Komplex
In den vergangenen Wochen habe ich mich gelegentlich an eine Geschichte erinnert, an deren Entstehung ich vor ziemlich genau acht Jahren beteiligt war. Wir sagten damals die Goldenen Zwanziger voraus. Bis 2025, und womöglich darüber hinaus, könne Deutschland mit stattlichen Wohlstandszuwächsen rechnen .
Im Großen und Ganzen ist es so gekommen – bis die Corona-Pandemie ausbrach. Können wir ab 2021 an diesen Strang der Erfolgserzählung anknüpfen?
Immerhin verfügt Deutschland über einen leistungsfähigen wissenschaftlich-wirtschaftlichen Komplex, der im abgelaufenen Jahr einige spektakuläre Erfolge verbuchen konnte. Den Nobelpreis für Chemie erhielt Emmanuelle Charpentier, die in Berlin die Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene leitet. In Sachen Entwicklung von Corona-Impfstoffen gehören die deutschen Biotech-Unternehmen Biontech und Curevac zu den führenden Firmen weltweit.
Es gibt eine breite Basis an Wissen, die Deutschland über manche Probleme hinweghelfen kann, auch über die technologische Wende in der für dieses Land so wichtigen Autoindustrie. Wenn es gelingt, dieses wissenschaftliche Know-how mit genügend Kapital auszustatten, sodass marktreife Produkte entstehen können, wird vieles möglich sein.
Die Roaring Twenties waren auch eine Ära der Übertreibungen: hoher Börsenkurse und Verschuldung sowie großer außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte. Die euphorische Ära endete 1929 mit einem gigantischen Crash, der in eine Weltwirtschaftskrise mündete, deren Folgen die 1930er-Jahre bestimmten.
Werden wir die Fehler von damals wiederholen? Wir können nie davor sicher sein.
Wegen der Feiertage erscheint Müllers Memo diese Woche ohne Terminvorschau.